Am 28. September 2020 traf der UNO-Kinderrechtsausschuss einen fürs Schweizer Asylwesen richtungsweisenden Entscheid: Auch begleitete Kinder müssen im Dublin-Verfahren eigenständig beachtet und gehört werden. Wie kam es dazu?
2018 erliess das Staatssekretariat für Migration (SEM) im Falle einer aserbaidschanischen Mutter mit zwei Söhnen aufgrund italienischer Visa einen Nichteintretensentscheid mit Wegweisungsvollzug. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde durch das Bundesverwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, dass keine konkreten Hinweise für eine Verletzung der europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) vorlägen oder gegen die Reisefähigkeit sprechen würden. Wegen des psychischen Gesundheitszustandes der Mutter wurde der Vollzug der Wegweisung jedoch ausgesetzt. Die Mutter erhob daraufhin Beschwerde beim Ausschuss und rügte unter anderem, dass ihre Kinder nicht angehört wurden.
Der Ausschuss kam in seinem Entscheid zum Schluss, dass auch Kinder unter 14 Jahren gehört werden müssen – und dass die Behörden die Interessen der Kinder bei sie betreffende Entscheiden berücksichtigen müssen. Rechtsvertreterin Caroline Schönholzer, die aktuell an der Universität Bern eine Dissertation im Bereich unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) verfasst, sagt in ihrem Aufsatz dazu: «Wann konkret – ohne dabei auf eine feste Altersgrenze abzustellen – eine direkte Anhörung von Kindern notwendig ist, muss folglich einzelfallspezifisch entschieden werden. Sicher ist, dass die mit dem Kindsinteresse verbundenen Abklärungen in die Standardabläufe im Dublin-Verfahren Eingang finden müssen, damit der Anforderung des Ausschusses genüge getan wird.»
Für die Rechtsvertreterin ist klar, dass auch im Rechtsschutz bei begleiteten Minderjährigen unter 14 Jahren im Dublin-Verfahren generell besser hingeschaut werden müsse: «Bisher hatten wir bei begleiteten Minderjährigen im Dublin-Verfahren nur einen besonderen Fokus auf diese, wenn es konkrete Anhaltspunkte für eine Gefährdung ihres Wohls gab.» Im Rechtsschutz soll stets ein Augenmerk auf das Befinden und die Bedürfnisse, aber auch auf die Meinung und Ansicht zu in Frage stehenden Rechten von begleiteten Kindern gelegt werden. In einem zweiten Schritt gilt es für die Rechtsvertretung zu klären, wann diese Punkte eingebracht werden müssen und wann eine eigenständige Anhörung des Kindes durch die Behörden angezeigt ist. Schönholzer ergänzt: «Uns als Rechtsvertretung muss stets bewusst sein, dass das Kindeswohl aller Kinder ein essentieller Aspekt in sämtlichen Verfahren darstellt und deshalb durch die Behörden zwingend eigenständig berücksichtigt werden muss.»
Zur Zeit arbeitet das SEM Vorschläge aus, wie der Entscheid des Kinderrechtsausschusses in der Praxis umgesetzt werden kann, so dass Kinder in Zukunft unabhängig von ihrem Alter mittelbar oder unmittelbar gehört werden. Mit Blick auf die Pflichten im Rechtsschutz hält Schönholzer fest: «Bis zur baldigen entsprechenden Anpassung des Dublin-Verfahrens bleibt es auch Aufgabe der Rechtsvertretung sicherzustellen, dass die für den Schutz des Kindeswohls relevanten Aspekte rechtzeitig in das Verfahren einfliessen.»